Mykene, die Stadt der Zyklopenmauern
Zu den ältesten und zweifellos eindrücklichsten Beispielen europäischer Mauerkonstruktionen gehören die Befestigungsmauern von Mykene. Sie entstanden in der späten Bronzezeit (späthelladische Periode) [1] und stehen gleichsam symbolisch für die früheste Hochkultur auf dem europäischen Festland. Die ab dem 17. Jh. v. Chr. aufblühende mykenische Kultur war vor allem von der minoischen Kultur aus Kreta beeinflusst [2]. Doch auch andere Einflüsse waren gerade für die Bautechnik von Bedeutung. So gibt es viele Gemeinsamkeiten mit dem im heutigen anatolischen Hochland liegenden Ḫattuša, der Hauptstadt des Hethiter-Reiches [3].
[1] Der hier betrachtete Zeitraum der Späthelladik (SH) wird in der Archäologie folgendermassen unterteilt: SH III A1 (ca. 1400–1360 v. Chr.) SH III A2 (ca. 1360–1300 v. Chr.) SH III B1 (ca. 1300-1250 v. Chr.) SH III B2 (ca. 1250-1200 v. Chr.) Nach Deger-Jalkotzy/Hertel.
[2] Eine gute Übersicht zur mykenischen Kultur findet sich z.B. in: Deger-Jalkotzy, Sigrid und Hertel, Dieter: Das mykenische Griechenland. München 2018.
[3] Seeher, Jürgen, Innovation im Bauwesen als Indikator für Kulturkontakt – Hethiter und Mykener als Fallbeispiel, in: Austausch und Inspiration, Kulturkontakt als Impuls architektonischer Innovation. Berlin 2006.

Lageplan von Mykene mit den hier beschriebenen Bauwerken. Grundlage: Besuchertafel

Mykene: Blick von Nordwesten auf die Befestigungsmauer mit verschiedenen Mauertypen. Foto: P. Völkle ©
Der Bau der gewaltigen Befestigungsanlagen und prächtigen Palastbauten begann im 14. Jh. vor Chr., als ein typisches Merkmal mykenischer Befestigungen gelten die sogenannten «Kyklopen- oder Zyklopenmauern». Mit diesem Überbegriff werden die aus großen Steinblöcken bestehenden Mauerkonstruktionen benannt. Die Bezeichnung wurde bereits in der griechischen Antike eingeführt, schon damals schien der Bau dieser aus gewaltigen Steinblöcken errichteten Mauern nur mithilfe mythologischer Riesen – den Kyklopen – möglich. Die Befestigungsmauer ist in ihrer heutigen Form das Ergebnis unterschiedlicher Bauphasen, verschiedener Funktionen sowie Reparaturen aus hellenistischer Zeit (um 300 v. Chr.). Dazu kommen Rekonstruktions- und Restaurierungsarbeiten im 19. und 20. Jahrhundert, einige Bereiche waren bis zum Beginn der Ausgrabungen im 19. Jh. verschüttet bzw. eingestürzt. Die auf den ersten Blick homogen wirkenden Abschnitte entpuppen sich daher bei genauerem Hinsehen als ganz unterschiedlich gestaltet, was die genaue Definition einer Zyklopenmauer erschwert.
Die Mauer in Mykene besitzt eine Länge von etwa 900 m, ist 5.5 m bis 7.5 m breit und war ursprünglich etwa 12 m hoch[4]. Der älteste Abschnitt befindet sich an der Nordseite der Befestigung, dieser wurde um 1350 v. Chr. aus einem hellen, dichten Kalkstein errichtet. Die Mauersteine sind hier durchgehend groß, Zwischenräume und breite Fugen wurden mit kleineren Zwickelsteinen ausgefüllt. Als Fugenmaterial wurde vermutlich Lehm verwendet. Die Sichtflächen scheinen bruchrau, vermutlich wurden die Steine aus den anstehenden Felsen mit ihren natürlichen Klüften ausgebrochen und kaum weiterbearbeitet. Die Felsformationen des Burghügels sowie der näheren Umgebung lassen einen direkten Abbau in unmittelbarer Umgebung vermuten. Möglicherweise erlaubte die Felsstruktur mit ihren Klüften und Spalten auch den Abbau mit einfachen Hilfsmitteln wie Hebebäumen, Hinweise auf Hilfsmittel wie Keile (Keiltaschen) fehlen bzw. konnten vor Ort nicht beobachtet werden. Über den Versetzvorgang dieser gewaltigen Steine kann nur spekuliert werden.
[4] Grundlagen zur Datierung und Abmessungen siehe Georg Mylonas: Mykene. Ein Führer zu seinen Ruinen und seine Geschichte (1981).

Der älteste Teil der Befestigung auf der Nordseite.
Etwa 100 Jahre später, um 1250 v. Chr. kam es zu einer umfangreichen Erweiterung der Stadtmauer im Bereich des heutigen Löwentors und der daran anschließenden westlichen bzw. südwestlichen Mauerabschnitte. Dabei wurde das sogenannte Gräberrund A mit in die Befestigungsanlage einbezogen. Bei dieser Erweiterung kamen an der Westseite wiederum eine Art Bruchsteinmauerwerk mit gewaltigen Blöcken und Zwickelsteinen zum Einsatz, diese entsprechen in ihrer Art den bereits erbauten Mauerabschnitten.

Erweiterung um 1250: Zyklopenmauer westlich des Löwentors, im linken Bereich eine Reparatur mit aus hellenistischer Zeit (etwa 300 v. Chr,). Foto: P. Völkle ©

Der Größenvergleich lässt die riesigen Dimensionen der Steinblöcke erahnen. Foto: P. Völkle ©

Reparaturabschnitt: Die Polygonalquader aus hellenistischer Zeit. Foto: P. Völkle ©
Der Bereich des Löwentors mit der angrenzenden Mauer wurde hingegen, ebenfalls um 1250 v. Chr. in einer anderen Mauertechnik errichtet: Zum Einsatz kam hier Konglomeratgestein, ein sehr grobes Sedimentgestein, das ebenfalls in der unmittelbaren Umgebung abgebaut wurde. Für den Einsatz dieses Materials sprechen mehrere Gründe: Zum einen konnte es offensichtlich besser geformt werden als der harte Kalkstein, was vor allem für die Gestaltung der Toranlage mit den gewaltigen Toreinrahmung wichtig war. Zum anderen hatte es sicher auch ästhetische Gründe, der Eingangsbereich erhielt mit diesem Material einen weitaus repräsentativeren Charakter als die doch recht grob ausgeführten Kalksteinmauern.
Allerdings war der Abbau des Konglomeratgesteins, der auch Mandelstein genannt wird, sicher sehr aufwändig. Da es sich um einen kompakten Felsen handelte, mussten die Quader jeweils in mühsamer Arbeit an vier Seiten freigelegt und anschließend vom Untergrund abgelöst werden . Durch diese Abbautechnik ergab sich auch die vorherrschende rechteckige Form der Mauersteine, gemauert wurde im sogenannten pseudoisodomischen Stil
(Quadermauerwerk mit ungleichen Höhenlagen).
Die Bearbeitung der Blöcke erfolgte auf zweierlei Art: Zum einen wurden Oberflächen fein gepickt, dabei wurde die Oberfläche mittels Bronze- oder Steinwerkzeugen fein zertrümmert. Dies führte zu den charakteristischen Oberflächen mit eher weichen Formen und gebrochenen Konglomeratbestandteilen. Neben dieser manuellen Oberflächenbearbeitung kam auch eine Säge zum Einsatz. Deren Spuren finden sich vor allem am Löwentor, dem Nordtor, der Umfassungsmauer und an den Tholosgräbern (siehe unten). Die mögliche Funktionsweise dieser Säge wurde bereits mehrfach beschrieben und auch experimentalarchäologisch nachgestellt [5, 6]. Die jüngsten Erkenntnisse von Jürgen Seeher dazu gehen davon aus, dass bogenförmige Bronzeblätter an einem Schaft befestigt und durch zwei Handwerkern von Hand geführt wurden. Durch den Einsatz von Schmirgel oder Quarzsand mit Wasser war nach den 2006 durchgeführten Experimenten eine Schnittleistung von 1,5 cm in 10 Minuten bei einer Schnittlänge von 40-50 cm möglich.
[5] Küpper, Michael (1996): Mykenische Architektur: Material, Bearbeitungstechnik, Konstruktion und Erscheinungsbild (Internationale Archäologie Band 25).
[6] Seeher, Jürgen: Sägen wie die Hethiter: Rekonstruktion einer Steinschneidetechnik im bronzezeitlichen Bauhandwerk. In: Martin Bachmann (Hg.): Bautechnik im antiken und vorantiken Kleinasien. Internationale Konferenz, 13. - 16. Juni 2007 in Istanbul. Istanbul: Ege Yayınları (Byzas, 9).

Mauerabschnitt vor dem Löwentor. Foto: P. Völkle ©

Ausschnitt der Mauer aus Konglomeratgestein (siehe Bild unten). Foto: P. Völkle ©

Ein ca. 40 m langer Mauerabschnitt östlich des Löwentors aus überwiegend rektangulären (rechteckigen) Steinblöcken (Konglomerat bzw. "Mandelstein"). Foto: P. Völkle ©
Das Löwentor
Der Haupteingang zur Zitadelle erfolgt über das Löwentor. Es wurde aus 4 Konglomeratmonolithen (jeweils 15-20 Tonnen schwer) errichtet, die die Türpfosten, die Schwelle und den Sturz bilden. Über dem massiven Türsturz wurde eine aus hartem Kalkstein bestehende Reliefplatte mit zwei Löwen angebracht. Diese sind das früheste Beispiel monumentaler Bauplastik in Europa.
Besonders interessant an diesem Relief sind die vorhandenen Bearbeitungsspuren, die dem normalen Betrachter aufgrund der Einbausituation nicht zugänglich sind. Der amerikanische Archäologe Nicholas Blackwell hat seine umfangreichen Beobachtungen und Erkenntnisse hierzu publiziert [7]. Von besonderem Interesse sind dabei die eingesetzten abrasiven Werkzeuge: Die geraden oder einfacheren Reliefkonturen wurden durch kurze oder längerer Sägeschnitte angelegt. Stärker gekrümmte Bereiche, etwa die Füße der Löwen, wurden durch dicht aneinander gereihte Bohrungen erzeugt, mehrere hundert Bohrlöcher mit Durchmessern (meist zwischen 8 und 16 mm) sind zu beobachten (siehe Abbildung unten). Die Bohrer funktionierten vermutlich auch mittels Zugabe von Schmirgel oder Sand, wie bereits bei den Sägeblättern beschrieben. Welche weiteren Werkzeuge für die Oberflächenbearbeitung zum Einsatz kamen ist nicht bekannt da entsprechende Spuren fehlen. Jedoch muss die Verwendung typischer Bildhauerwerkzeuge wie Hammer und (Bronze)- Meißel angenommen werden.
[7]Nicholas G. Blackwell: Making the Lion Gate Relief at Mycenae: Tool Marks and Foreign Influence: In: American Journal of Archaeology, Vol. 118, No. 3 (July 2014), pp. 451-488.
Abbildung aus: Nicholas G. Blackwell: Making the Lion Gate Relief at Mycenae: Tool Marks and Foreign Influence: In: American Journal of Archaeology, Vol. 118, No. 3 (July 2014), p 457.

Das ca. 3 x 3 m große Löwenrelief aus Kalkstein . Foto: P. Völkle ©
Das Nordtor
Etwa zeitgleich mit dem Löwentor entstand das Nordtor, für das ebenfalls massive Konglomeratblöcke verwendet wurden. Die Dimensionen sind hier wesentlich kleiner, ebenso fehlen bildhauerische Verzierungen. Interessant sind hier jedoch einige Säge- und Bohrspuren, die durch die geschützte Lage noch besonders gut erhalten sind:






Die Tholosgräber
Außerhalb der Stadtmauer befinden sich insgesamt neun Kuppelgräber aus der Zeit zwischen 1500 und 1220 v. Chr. Diese bestehen aus unterirdisch angelegten Kuppeln in Kragbauweise zu denen jeweils ein gerader Zugang, der Dromos, führt. Besonders interessant sind hier die Entwicklungen der Mauerstrukturen und Details der Steinbearbeitung die an zwei Beispielen gezeigt werden sollen:
Grab der Klytaimnestra, um 1220 v. Chr.
Das Grab der Klytaimnestra hat einen Dromos von etwa 37 m Länge und 6 m Breite, die beiden Mauern aus Konglomerat wurden sehr sorgfältig bearbeitet. Der Eingangsbereich hat eine abgetreppte Umrahmung die komplett mit einer Säge hergestellt wurde. Das Material wirkt dadurch besonders edel, da die Strukturen durch den glatten Schnitt sehr deutlich hervortreten. Das Entlastungsdreieck wurde in Kragbauweise erstellt. Mit der gleichen Technik wurde auch die Kuppel errichtet, die aus ca. 50 Steinlagen unterschiedlicher Höhe besteht.










Schatzhaus des Atreus, um 1250 v. Chr.
Das Schatzhaus des Atreus ist ebenfalls ein Kuppelgrab, das in seinen Ausmaßen dem Grab der Klytaimnestra sehr ähnlich ist. Besonders beeindruckend sind hier jedoch die einzelnen Konglomeratblöcke. So befindet sich am Beginn des Dromos ein etwa 6 x 1,2 m großer Block (die Blocktiefe ist nicht messbar), der etwa 25 Tonnen wiegen dürfte. Noch größer ist der innere Deckstein des Türsturzes mit Abmessungen von etwa 8,3 x 5,2 x 1,2 m. Bei einer angenommenen Dichte von 2,4 dürfte er gut 120 Tonnen wiegen. Wie dieses immense Gewicht transportiert und positioniert wurde ist nur schwer vorstellbar. Der Türumrahmung ist auch hier durch Sägeschnitte angelegt, allerdings wurden die Profilkanten nur wenige Zentimeter tief gesägt und dann das Profil in der Tiefe relativ grob herausgearbeitet. Die imposante Kuppel mit einem Durchmesser von 14,6 m und einer Höhe von 13,5 m wurde aus 33 horizontalen Steinringen in Kragbauweise errichtet.









